Eine Bewunderin fragt eine Performerin: I know you said one should leave the tears to the audience but… Do you ever find yourself overwhelmed by emotion?

To really get overwhelmed by emotion. To really let yourself be hit by it. Leave the tears to the audience. Take them away again. Put your whole heart into the piece. Steal the hearts of the audience. 

Wir gewinnen den Preis für den 9000sten Besuch des Films Close zusammen als Paar. In einem vollen Kino werden wir nach vorne vor die Leinwand gebeten, bevor der Film losgeht. Ich habe mir schon einen Schuh ausgezogen und R. hat seine zu enge Hose aufgemacht und es vergessen. Uns ist unwohl, dass wir gefeiert werden für etwas, wofür wir nichts geleistet haben und alle im Saal wegen uns länger auf den Film warten müssen. Wir versuchen sympathisch zu sein, uns wirklich zu freuen und diesen Moment zu etwas zu machen, über den sich die anderen Besucher*innen mitfreuen können. Ich mache eine Pose mit gehobenen Armen und geballten Fäusten, mein Mund formt einen stummen Glücksschrei und R. ruft: Ich habe noch nie etwas gewonnen!

Kurz werden wir vor dem Standbild auf der Leinwand zu Performer*innen. Wir performen gutes Publikum; wir werden als Publikum ausgezeichnet und geehrt. Später sehe ich den Instagram-Post dieses Moments: Ich mit geschlossenen Augen, der Beamer projiziert fette Leuchtbuchstaben auf meine Stirn.

Unser Preis ist unter anderem ein 30er Pack Taschentücher, weil der Film sehr traurig werden wird. Als wir zurück auf unseren Platz gehen, bietet R. Taschentücherpackungen an, alle lachen. Verlegener Stolz über die geerntete Reaktion.

Die Symbolik des Films ist eindeutig, sie ist interpretativ nicht zu verfehlen: Die Familie, die Blumenfelder bewirtschaftet, zwei Jungen zwischen den Blumen. Der Wechsel der Jahreszeiten, wenn die übrig gebliebenen Pflanzen von einem Traktor brutal abgeschnitten werden, ist der Moment, in dem die Freundschaft brüchig wird. Die Zuwendung zum Eishockey spielen, die hinter Schutzanzüge zurückgedrängte Zartheit der Kinderkörper, die Stürze auf das harte Eis. Der ewige Winter in der Halle. Alles ist lesbar, die Metaphern so direkt den Gefühlswelten der Charaktere und den Ereignissen in der Geschichte entsprechend.

Die Form überstrapaziert mich nicht, sie gibt mir Halt, ich kann sie emotional begehen und es fühlt sich an, als würde ich mich selbst begehen.

Eine halbe Stunde in den Film rein laufen mir Tränen das Gesicht runter. Erst in Schüben, liebevoll gerührt, mit Unterbrechungen, dankbar dafür, mich spüren zu dürfen, Anteil nehmen zu dürfen und dazu mehr als fähig zu sein. Die restlichen zwei Stunden heule ich durch, ich reguliere mich nicht mehr. Wellen von Vor- und Rückübertragungen, die Leinwand und ich, nur noch innen, nur noch Gefühl. Mein Körper, den ich zwar spüre, der aber in der Dunkelheit des Kinos unsichtbar wird und an Form verliert. An einer fremden Geschichte teilnehmen mit Emotionen, die mir gehören, die Momenten gehören, die ich erlebt habe außerhalb dieser Geschichte. Ich antworte mit allem, was ich habe auf das, was ich sehe. Ich kann niemanden retten, ich kann nichts lösen, ich kann gleich aus dem Kino gehen und all das ist so nicht passiert, diesen Menschen nicht, heute nicht. Ich trage keine Verantwortung. Ich weine mich aus.

„Warum hast du nicht geweint? Bist du traurig?“

„I am not feeling sad watching this. I find it sad.“

Ich schaue Interviews mit den beiden 15 jährigen Hauptdarstellern. Sie leben und haben eine steile Karriere vor sich. In Smoking auf dem Filmfest in Cannes, mit expressiven Sonnenbrillen, festen Zahnspangen und Pride-Armbändchen. Sie sprechen laut, mit sich verwandelnden Stimmen, lachen stolz und selbstbewusst. Ich stelle mir den Dreh vor, das Equipment, die Kameras ganz nah an den Gesichtern der Darsteller*innen, keine Musik, das riesige Team, das ringsherum steht… Die Vorstellung davon und die Interviews entzaubern und beruhigen und helfen mir, den Abschied von den Figuren hinauszuzögern. Ich kann sie jederzeit auf youtube besuchen. „ An intimate and quietly desperate study“ „An exceptional film of tremendous empathy and vision“ „Heartbreaking and emotionally rich“ „Gorgeous and tender“ „beautiful and moving“