L ist über achtzig und wurde 12 Jahre lang in ihrem Haus gepflegt. Die Pflegekräfte leben zeitweise mit ihr in diesem Haus. Zwei Frauen, die sich alle 6 Wochen abwechseln, sind Mutter und Tochter und pendeln zwischen der eigenen Familie in Polen und der alten, dementen Frau in Köln hin und her. Diese Struktur ist eingespielt und besteht, seit ich L zum ersten Mal gesehen habe. Im September muss L dann sehr plötzlich in eine stationäre Pflegeeinrichtung umziehen, weil eine der Pflegerinnen unerwartet verstirbt, während sie in Polen ist. L stirbt dann in der Pflegeeinrichtung nach weniger als einem Monat.

Hätte ich eine dokumentarische Reportage über Pflegekräfte, die im Ausland Menschen zu Hause pflegen, gedreht, würde dieses dramatische Ende die strukturellen Missstände sehr nachdrücklich unterstreichen, finde ich.

Wir stehen in der Küche rum am Tag nach dem Tod von L.

Nach einer Weile sage ich: „Ich finde es schon krass, dass das Sterben der beiden so eng miteinander zusammenhängt.” 

S „Ja schon, aber für alte Menschen ist es ja allgemein schwierig, den Ort zu wechseln. Vielleicht konnte Sie ja noch den Geruch von zu Hause wahrnehmen und der war ja dann plötzlich weg.“

Wie hängen Fühlen und Strukturelles zusammen?

Wie unterscheiden sich meine Wut und ihre Trauer?

How Do you feel for yourself? How Do you feel with others?

Das unbehagliche Gefühl professionalisieren, das Mitfühlen ausdrücken können, dem Mitfühlen eine adäquate Form geben, das Weinen kontrollieren, nur ein bisschen weinen, mit meinem Blick bei den richtigen Menschen ankommen, nicht ins Gebet einstimmen ohne anti rüberzukommen, mitnuscheln ohne Geräusch, …

In der Trauerhalle in der zweiten Reihe direkt am Gang. Fließende, leicht glänzende Samtstoffe, die den größten Teil des Sarges verdecken, bunte Blumenkränze mit geschwungener Schrift auf den Schleifen, viele Kerzen, die Hälfte davon sind batteriebetrieben und flackern im gleichen Takt, ein großes Foto mit einer lächelnden Frau, vielleicht wurde das mal auf einem Geburtstag aufgenommen.

Der Trauerredner beginnt nach dem ersten Track der CD mit klassischer Musik seine Rede. Ich versuche, mir alles einzuprägen. Seine runde Brille mit dicken Gläsern, seine orthopädischen Schuhe, die unten aus dem Messdienerrock herausragen, wie er sanft und getragen spricht und die dramaturgischen Kurven, die er einschlägt. Ein loser Zettel liegt in dem geschmückten Buch, das er in den Händen hält. Zwischendurch ganz alltagsnah „ja ich will es mal so ausdrücken, sie musste den Laden zusammenhalten und wenn ich euch hier so sehe, hat sie das auch geschafft.“

Ich bin in einem Zustand zwischen Fühlen und Beobachten. Ich bekomme alles mit, was keiner sehen soll, ich sehe hinter den gewölbten Glasscheiben wie draußen die Sargträger ankommen und noch eine rauchen. Ich dachte, dass ich mich entscheiden kann, dass die (christlichen) Texte des Trauerredners mich nicht berühren. Sein Service ist, einen Zeitrahmen zu erschaffen, in dem geweint und getrauert werden kann, wo die Gedanken abschweifen können, und Erinnerungen auf- und abtauchen. Und das kann er so gut, dass auch mich die Rührung erreicht, die sich im ganzen Raum ausgebreitet hat. Ich bin mir sicher, dass er nicht unbedingt gemocht werden will und dieser performative state interessiert mich.

What can I make you feel, if I don’t want to be liked by people? /if I don’t need to be liked? Er spricht die persönlicheren Sätze über L sanft aus, aber auch irgendwie unemotional.

Er kann gleichzeitig sagen, dass er sie nicht kannte, aber auch, dass er ja alle Menschen kennt.

Wie kann ich (körperlich) behaupten, dass ich nicht weiß wie Du Dich fühlst, aber, dass ich gleichzeitig weiß, wie sich alle Menschen fühlen?

How Do I make you feel when I amplify your feelings?

How Do you feel when I make you feel something?

How Do I feel when I feel what you are feeling?

Der Schlussakkord des letzten Tracks lässt auf sich warten. Es ist, als würde er sich anschleichen und vorsichtig schauen, ob auch alle schon so weit sind. Nach mehreren Versuchen und Schleifen, die sich wieder virtuos schlängelnd vom Schluss entfernen, wird er dann umso nachdrücklicher und länger gehalten. Das kleine Nicken des Trauerredners gibt der Person am CD Player zu verstehen, dass sie ihn ausschalten kann.